Wird ein Sachverständiger von den Gerichten mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, ist er gehalten, sich streng an die Beantwortung der Fragen zu halten, die das Gericht ihm gestellt hat, in Ansehung derer es von ihm ein Gutachten erwartet. Der gerichtliche Sachverständige hat daher grundsätzlich rechtlich verordnete „Scheuklappen“ auf. Keine Regel ohne Ausnahme!

Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 14.06.2016, 10 W 23/16) musste über die Frage entscheiden, ob ein vom Gericht bestellter Sachverständiger, der seine „Scheuklappen“ ablegt, und in seinem Gutachten auf Mängel hinweist, die nicht Gegenstand des gerichtlichen Beweisbeschluss waren, befangen ist.
Wie sich aus den Entscheidungsgründen des OLG Stuttgart ergibt, hatte das Landgericht Stuttgart im Rahmen eines so genannten selbstständigen Beweisverfahrens den Gutachter mit der Erstattung eines Gutachtens zu den Beweisthemen beauftragt, die die Antragstellerin des selbstständigen Beweisverfahrens in ihrem Antrag vorgegeben hat.
Aus dem veröffentlichen Beschluss des OLG ist nicht zu entnehmen, welcher Art die Mängel waren, die der Antragsteller zum Gegenstand des selbstständigen Beweisverfahrens gemacht hat.
Jedenfalls hat der vom Gericht beauftragte Sachverständige im Rahmen der Einnahme eines Ortsaugenscheins schwerwiegende Mängel festgestellt, die nicht Gegenstand des gerichtlichen Beweisbeschlusses waren, die nicht Gegenstand des Antrags auf Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens waren.
Diese Mängel waren allerdings so schwerwiegend, dass die konkrete Gefahr bestand für die Nutzer der vom Sachverständigen zu überprüfenden Anlage.
Dies hat den Sachverständigen veranlasst, in dem von ihm erstellten Protokoll über die von ihm eingenommene Ortsbesichtigung auf diese schwerwiegenden Mängel hinzuweisen, deren Vorhandensein eine Gefahr dargestellt haben für die Nutzer der Anlage.
Die Antragsgegnerin hat dies zum Anlass genommen, den Sachverständigen wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.
Das Landgericht war anderer Auffassung, hat vorliegend die Besorgnis der Befangenheit verneint.
Diese Auffassung wurde vom OLG Stuttgart bestätigt. Zwar, so das OLG Stuttgart, sei der Sachverständige grundsätzlich an das ihm vom Gericht vorgegebene Beweisthema gebunden.
Aber: Keine Regel ohne Ausnahme!

„Stellt ein Bausachverständige im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit einen - möglicherweise nicht vom Beweisthema umfassten - Fehler fest und ist dieser Fehler mit einer aktuellen Gefahr für Leib und Leben von Personen verbunden oder kann der Fehler zu einem nicht unerheblichen Vermögenschaden führen, ist er nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag zur Gefahrenabwehr berechtigt, die betroffene Partei des Rechtsstreits hiervon in Kenntnis zu setzen (§§ 677, 680 BGB).
Mit der Ermittlung der diesbezüglichen Tatsachen und dem Hinweis darauf führt der Sachverständige objektiv ein Geschäft des Bauherren und des Eigentümers des Bauherrn oder der technischen Anlage, da es grundsätzliche Sache dieser Partei wäre, das Eintreten von Personen- oder Sachschäden zu verhindern, die auf Fehler des Bauwerks oder der technischen Anlagen zurückzuführen sind. Der Wille des Geschäftsherrn geht daher grundsätzlich dahin, dass er auf die bestehende Gefahr und die Gefahrenursache hingewiesen wird, um sodann entscheiden zu können, welche Maßnahmen er in die Wege leitet. Mit einem solchen Hinweis des Sachverständigen zur Gefahrenabwehr setzt er sich nicht dem Vorwurf der Befangenheit aus.“

Die Entscheidung des OLG Stuttgart, des so genannten Bausenats, ist zu begrüßen. Sie ist geeignet, die Sachverständige aus einer Zwangslage zu befreien, die dann gegeben ist, wenn sie nach dem gerichtlichen Beschluss nur ganz bestimmte Mängel „sehen“ oder begutachten sollen, jedoch im Zuge des Ortstermins schwerwiegende Mängel feststellen, die nicht Gegenstand des gerichtlichen Beweisbeschlusses waren, die jedoch sowohl die Gefahr der Entstehung von Personenschäden in sich bergen, als auch die Gefahr erheblicher Sachschäden. Gerade in Bauprozessen, in denen Naturparteien ohne vorherige Beauftragung von Sachverständigen selbstständige Beweisverfahren einleiten mit dem Ziel, die von ihnen erkannten Mängel festzustellen, liegt die Gefahr nahe, dass die Naturparteien die eigentlichen, schwerwiegenden Mängel mangels ausreichender Sachkenntnis nicht erkennen, können.